Montag, 21. März 2016

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Die roten Doppeldeckerbusse verstopfen die vielbefahrene Kreuzung. Ich kann sie gut von den Treppen, auf denen ich sitze, sehen. Hinter mir beendet ein Artist gerade seine feurige Show vor einer begeisterten Menge von Schaulustigen. Und hinter ihm steht still und mächtig die National Gallery, die erst morgen früh wieder ihre Türen für alle neugierigen Besucher öffnen wird. Es ist dunkel und spät geworden, doch noch immer treiben sich auf dem Platz einige Touristen herum. Neben uns auf den Stufen oder von Bänken aus bestaunen sie die Springbrunnen mit den sich stets veränderten Lichtern auf dem Trafalgar Square.

Langsam legt sich der Tumult, den der Artist ausgelöst hat. Neben mir sitzt meine beste Freundin. Wir reden nicht viel, als wir dort sitzen. Hier und da ein Wort über den bestrittenen Tag. Die Touristenattraktionen haben wir nun weitgehend abgearbeit. Einzig am Trafalgar Square sind wir nun zum ersten Mal. Besonders bei Nacht gleicht dieser Ort einer Insel inmitten eines Meeres, das keine Ebbe kennt, sondern nur eine Flut an Reizen. Es ist schön, diese Ruhe zu genießen und diese neue Seite der Stadt kennenzulernen. Dennoch liebe ich diese Metropole vor allem für ihre Unruhe. Unruhe bedeutet Bewegung, bedeutet Entwicklung, bedeutet eine unbekannte, mit Freude erwartete Zukunft. London - Die Stadt der unverhofften Möglichkeiten.

Schon eine ganze Weile spiele ich mit dem Gedanken, mein Leben fortan dort zu leben. Ich könnte mir ein kleines Zimmer suchen, notfalls im Mile End oder noch weiter östlich. Ich käme zurecht, egal wo. Hauptsache, ich könnte meine Tage dort beginnen, wo ich gerne aufwache. Und mich an dem Ort wieder schlafen legen, von dem ich unentwegt träume. Mein Lohn wäre sicher auch nicht hoch, aber er würde zum Leben reichen. Viel Geld brauche ich ohnehin nicht. Ich würde damit auskommen, wirklich, ich käme damit aus. Natürlich wäre ich erstmal alleine, aber die Billigflieger starten oft in diese Richtung. Meine Freunde würden sich auch bestimmt nicht nehmen lassen, meine Gastfreundschaft so oft wie möglich zu beanspruchen. Umgekehrt könnte ich natürlich auch ab und an in die alte Heimat fliegen. Ja, so ginge das schon. So ginge das bestimmt.

Die wechselnden Lichter der Brunnen erlischen als Erstes. Daraufhin wird der Wasserstrahl selbst immer schwächer bis er für die Nacht ganz versiegt. Der Platz scheint sich für den nächsten Tag ausruhen zu wollen. Plötzlich erscheint der Wind deutlich kälter und der Himmel sehr viel dunkler. Der Umstand, dass ich aus ästhetischen Gründen mal wieder auf einen Schal verzichtet habe, wird sich in den nächsten Tagen sicher rächen. Bald werden wir wohl wieder zurück ins Hostel fahren. Doch noch sind die Temperaturen erträglich. Einen Moment noch. Zumindest so lange bis der junge, unscheinbare Mann sein Equipement fertig aufgebaut hat. Genau dort, wo noch vor einigen Minuten der Artist Dutzende von Menschen unterhalten hat, steht er nun alleine und stellt sich Mikrofon, Lautsprecher und Akustikgitarre zurecht. Ein Musiker.

Musik gibt es hier so viel. Sehr viel. Man findet sie vor allem dann, wenn man die ausgetretenen Pfade verlässt und bewusst jene Orte besucht, zu denen sich meist kaum ein Tourist verirrt. Weit entfernt von der übermächtigen O2 Arena befinden sich all die wahren Schauplätze, an denen die Großen unserer Zeit zum ersten Mal ihre Melodien in die Welt entließen. Ich liebe diese Orte. Geprägt von ihrer Geschichte, ist die Aura dort immer eine ganz besondere. Ich genieße es sehr, mich mit dieser Luft zu umgeben. Und jedes Mal möchte ich einfach bleiben. So gerne möchte ich bleiben.

Die ersten Akkorde, die auf einer leicht verstimmten Gitarre gespielt werden, durchdringen Kälte und Dunkelheit. Ein Lied, das ich eigentlich gar nicht so besonders mag. Doch die leicht rauhe Stimme des Musikers passt gut. Und irgendwie entspricht selbst das wenig gemochte Lied der aktuellen Stimmung. Hallelujah.

Mein Blick wandert an der Säule inmitten des Platzes nach oben. Ich wundere mich, wen oder was die Figur an ihrer Spitze wohl darstellt. Ich habe keine Ahnung. Doch ich kenne jemanden, der die Antwort vermutlich kennt. Doch dieser Jemand ist nicht hier. Und obwohl er mir in diesem Moment fehlt, wünsche ich mir nicht, dass er jetzt hier ist. Ich wünschte, London wäre, wo er ist.